Fehlvorstellungen, Vorurteile und gesellschaftliche Stigmata haben oft dazu geführt, dass intersexuelle Minderjährige sich schämen und sich invasiven, nicht einvernehmlichen Operationen unterziehen müssen. Da die Branche bestrebt ist, geschlechterinklusiver zu sein, lehnen die russischen Zwillingsschwestern und Kinobegeisterten Sasha Komarova und Sonia Komarova die Vorstellung ab, von einem einzigen Geschlecht definiert zu werden. Sasha, die kürzlich bei der F/W-Modenschau von Chloé gelaufen ist, sagte: „Mehr intersexuelle Menschen in der Welt und in den Medien zu sehen, kann dazu beitragen, Intersexuelle zu entstigmatisieren und das Schamgefühl, das sie empfinden, zu beleuchten.“ Wir sprachen mit den Komarova-Schwestern über sich entwickelnde Identitäten, Zwillings-Telepathie und künstlerische Freiheit.

Wie und wann seid ihr entdeckt worden?
Sasha Komarova - Ich habe immer davon geträumt, in der Modebranche zu arbeiten. Man könnte sagen, ich hatte eine Leidenschaft für Mode. Mit 16 Jahren habe ich mich also entschlossen, mein Glück zu versuchen und einige Polaroids bei einigen Agenturen eingereicht. Das Modeln schien der einfachste Weg in die Branche zu sein, besonders in so jungem Alter.

Sonia Komarova - Ein Jahr später, als ich herausfand, wie ich meine Modelkarriere starten konnte, wusste ich, an wen ich mich wenden konnte: meine Schwester Sasha. Sie haben mir sehr geholfen, denn sie kannten die Welt des Modelns zu dieser Zeit bereits. Ich bin einfach zu Sashas Agentur gegangen, und sie haben sich meiner angenommen.

Was ist das Überraschendste an euch?
Sasha - Ich denke, die meisten Menschen sind überrascht, dass ich intersexuell bin. Vor allem, weil die meisten Menschen selten offen intersexuelle Personen treffen, aber ich hoffe, das wird sich bald ändern.

Sonia - Ich habe mit 10 Jahren gelernt, Poker zu spielen. Erstaunlicherweise bin ich immer noch ziemlich schlecht in dem Spiel.

Was bedeutet Geschlechterfluidität für euch?
Sasha - Ich denke, das Geschlecht, genauso wie die Sexualität, ist für jeden irgendwie fließend. Unsere Identitäten entwickeln sich im Laufe der Zeit. Im Moment identifiziere ich mich nicht mit Geschlechterfluidität. Ich fühle mich nicht an einem Tag mehr wie eine Frau und an einem anderen Tag mehr wie ein Mann. Ich existiere außerhalb dieses Systems. Deshalb identifiziere ich mich als nicht-binär.

Sonia - Für mich bedeutet die Entscheidung, sich nicht an Geschlechterrollen zu halten, Freiheit. Sich als nicht-binär zu identifizieren, ist eine Möglichkeit, etwas Persönliches in mir mit der sozialen Rolle zu verknüpfen. Ich bin dankbar, dass diese Option für Menschen wie mich zur Verfügung steht. Ich bin dankbar für all die Menschen, die sich vor mir als nicht-binär identifiziert haben, denn sie haben es nicht nur einfacher, sondern auch möglich gemacht.

Wie würdet ihr eure Zwillingsbeziehung beschreiben?
Sasha - Ich liebe Sonia. Sie ist die Person, die ich auf der Welt am liebsten mag. Wir verstehen uns die meiste Zeit ohne Worte, und wir haben sehr ähnliche Vorlieben in Bezug auf Mode, Kino und Musik. Wir streiten uns manchmal, wie Geschwister das eben tun, aber unsere Bindung ist für mich sehr besonders.

Sonia - Sasha und ich sind die besten Freunde der Welt. Wir verstehen uns ohne Worte, einige würden es Zwillings-Telepathie nennen, aber ich denke, es liegt daran, dass wir viel Zeit miteinander verbracht haben und uns wie niemand sonst kennen. Sie ist die einzige Person, bei der ich mich nie unwohl fühle.

Was denkt ihr über die jüngsten Maßnahmen gegen Künstler wie Emmie America und Yulia Tsvetkova, die in Russland für Feminismus und künstlerische Freiheit eintreten?
Sasha - Beide Frauen sind Künstlerinnen, aber im heutigen Russland steht Kunst für Aktivismus. Die Tatsache, dass sie vom Gesetz für die Ausübung ihres Rechts auf Meinungsfreiheit bestraft werden, macht mich wütend. Im Moment gibt es in meinem Land keine Redefreiheit und Meinungsfreiheit. Emmie und Yulia sind Beispiele dafür. Es ist wichtig zu verstehen, dass es jeden von uns hätte treffen können.

Sonia - Es ist ärgerlich, dass das aktuelle Regime die Freiheit von Künstlern bedroht, die politische Themen in ihren Werken behandeln. Es ist ein Angriff auf die Menschenrechte. Ich respektiere alle Künstler, die trotz der Gefahren, die sie in Russland auf sich nehmen, weiterhin ihre Kunst ausüben. Ihr Mut ist eine riesige Inspirationsquelle.

Wie kann eine verstärkte Vertretung und Aufklärung von intersexuellen Menschen dazu beitragen, gesellschaftliche Vorurteile abzubauen?
Sasha - Intersexuelle Menschen können sich oft schämen, und das kommt vom Gefühl der Andersartigkeit. Die meisten Menschen wissen nichts über intersexuelle Menschen, deshalb können sie verwirrt oder negativ gegenüber unserer Gemeinschaft eingestellt sein. Was noch schlimmer ist, ist, dass die Scham die medizinische Behandlung beeinflusst, die intersexuelle Menschen erhalten, und Ärzte dazu bringt, schädliche kosmetische Operationen an intersexuellen Menschen durchzuführen, oft bevor sie ihre Zustimmung geben können. Mehr intersexuelle Menschen in der Welt und in den Medien zu sehen, kann dazu beitragen, Intersexuelle zu entstigmatisieren und das Schamgefühl, das sie empfinden, zu beleuchten.

Sonia - Alle Vorurteile basieren auf Unwissenheit. Heutzutage gilt es als mutig, sich als intersexuell zu outen, weil man etwas teilt, was negative Kommentare auf sich ziehen könnte. Ich habe Glück gehabt, und ich war erstaunt über die positive Reaktion, die ich nach meinem Outing erhalten habe. Offen zu sein, zeigt vielleicht, dass ich stolz darauf bin, ich selbst zu sein, anstatt das zu sein, was andere von mir erwarten. Ich denke, die Welt verändert sich, und mit der modernen Möglichkeit, Informationen zu finden, wird Ignoranz nicht mehr toleriert.

Wie kann die Branche inklusiver gegenüber nicht-binären Menschen sein?
Sasha - Ich habe großes Glück, in der Modekarriere zu sein. Diese Branche kann sehr unterstützend und progressiv sein, im Gegensatz zu anderen Karrieren, die ich hätte wählen können. Die Modenschauen brechen bereits die Geschlechterbarrieren, indem sie eine einzige Show mit Kleidung für alle anbieten, anstatt getrennte Shows für zwei Geschlechterkategorien. Obwohl Agenturen immer noch separate Kategorien für MÄNNER und FRAUEN auf ihren Listen haben und nicht-binäre Menschen in binäre Schubladen stecken müssen.

Sonia - Meiner Meinung nach wird die Ausschließung nicht-binärer Menschen in der Modebranche größtenteils durch geschlechtsspezifische Kleidung verursacht. Ich bin sehr froh zu sehen, dass dies heute immer mehr überdacht wird. Das Verständnis, dass Kleidung kein Geschlecht hat, könnte zu dramatischen Veränderungen führen, bei denen Mode uns vereinen und nicht trennen könnte.

Was sind eure Ziele für 2021?
Sasha - Dies ist eine schwierige Zeit, um Pläne zu machen. Alles kann sich in wenigen Tagen ändern. Ich schätze es einfach, wieder mit kreativen Menschen zu arbeiten, und hoffe, an mehr Aktivismusprojekten teilnehmen zu können.

Sonia - Ich denke, viele von uns haben im letzten Jahr gelernt, wie wichtig es ist, bereit zu sein, dass einige unserer Pläne nicht aufgehen, Hoffnung zu haben, aber auf schnelle Veränderungen vorbereitet zu sein. Ich bin also offen dafür, zu sehen, wohin mich dieses Jahr führen wird.

Was sind eure anderen Interessen außerhalb des Modelns?
Sasha - Ich liebe Film und Fotografie. Ich träume davon, eines Tages auf einem Filmset zu sein und an einem Filmprojekt als Kameramann, Regisseur oder vielleicht sogar Schauspieler zu arbeiten. Im Moment konzentriere ich mich hauptsächlich auf die Fotografie und habe meine Arbeit in diesem Jahr zum ersten Mal veröffentlicht.

Sonia - Ich bin Filmemacherin, das ist eine meiner Leidenschaften seit der High School. Ich kann stundenlang über Filme sprechen. Ich könnte mir vorstellen, meinen Aktivismus auf den Film zu übertragen, denn das wäre eine andere Möglichkeit, über die Themen zu sprechen, die mich interessieren.

Mit welchen Designern möchtet ihr gerne arbeiten und habt sie bisher noch nicht getroffen?
Sasha - Ich bin ein großer Fan von Miuccia Prada und allem, was sie für Prada und Miu tut. Ich bin auch sehr beeindruckt davon, wie Casey Cadwallader und Julien Dossena es geschafft haben, die legendären Modehäuser Mugler und Paco Rabanne neu zu erfinden. Das sind Shows, an denen ich geehrt wäre teilzunehmen.

Sonia - Einer meiner großen Träume ist es, für Vivienne Westwood zu arbeiten, die Eco-Punk-Königin der Mode. Sie und ihre Marke sind eine große Inspirationsquelle für mich.